Die öffentliche Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf die Bedrohung für Arbeitsplätze, die zurzeit noch von Menschen aus den Mittelschichten besetzt sind, etwa bei Banken und Versicherungen.
Was aber ist mit den Langzeitarbeitslosen? Sie haben bereits jetzt das Nachsehen, keine realistischen Perspektiven auf dem regulären Arbeitsmarkt. Eine Fachtagung am Donnerstag, 17. November, im Oswald-von-Nell-Breuning-Haus in Herzogenrath bei Aachen beleuchtete die Folgen des aktuellen Strukturwandels für die Betroffenen. Und sie erörterte die Frage, wie Langzeitarbeitslose auch ohne klassische Erwerbsarbeit mit Würde an der Gesellschaft teilhaben können.
Mehr als 100 Fachleute und Verantwortliche aus Politik, Gesellschaft, Kirche und Trägern von Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekten suchten bei der Dialogtagung „Arbeit 4.0" den Austausch darüber, was man in Nordrhein-Westfalen, im Bistum Aachen, in der Wirtschaftsregion Aachen tun kann. „Wir dürfen keine Menschen als Verlierer zurücklassen", gab der Aachener Generalvikar Dr. Andreas Frick als Orientierung vor. Er verwies auf das Wort von Papst Franziskus, der sich gegen eine „Globalisierung der Gleichgültigkeit" ausgesprochen hat.
Gefordert ist objektiv der Gesetzgeber, er muss den Rahmen gestalten. Zurzeit könne man aber nicht davon ausgehen, dass er von seiner bisherigen arbeitsmarktpolitischen Linie abweiche, bedauerte Hermann-Josef Kronen, Vorsitzender des Koordinationskreises kirchlicher Arbeitsloseninitiativen im Bistum Aachen. Gleichwohl sei es an der Zeit, die wachsende Spaltung des Arbeitsmarktes, der Einkommen und der Gesellschaft kritisch zu beleuchten. Der Druck wächst.
Dafür schärfte auch Prof. Franz Segbers den Blick: Alle Rechte der Beschäftigten seien erkämpft worden. Bei jedem industriellen Rationalisierungsschub habe es solche Konflikte und Aushandlungen gegeben, sagte der Sozialethiker aus Marburg. Nun sei es wieder an der Zeit zu streiten und zu kämpfen. Denn die rasante Digitalisierung der Wirtschaft sei keineswegs eine naturgesetzliche Entwicklung, sondern ein Trend, hinter dem ökonomische und politische Interessen stünden.
Die Probleme seien vielschichtig und gefährdeten auf Dauer den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie, merkte Segbers mit Blick auf die Wahlerfolge von Rechtspopulisten an. Ein paar Stichworte: Das Einkommen der Beschäftigten sei entkoppelt vom Produktivitätsfortschritt. Die Zerfransung der privaten Zeit durch neue Technologien führten zur 50-Stunden-Woche zurück. Neue Arbeitsverhältnisse entstünden, ohne Rechte, mit minutengenauer Entlohnung. Auch die wachsende Zahl gewerkschaftsfreier Zonen besorgt den Sozialethiker und er ruft zum Widerstand auf.
Für die Langzeitarbeitslosen ist die aktuelle Digitalisierung noch einmal brisanter, sie verschärft alle Ausgrenzung, welche sie heute schon erfahren. Gleich, ob es um den Arbeitsmarkt geht, den Wohnungsmarkt, die Arbeits- und Sozialverwaltung oder die Gesellschaft als Ganzes: Menschen, die schon länger als vier Jahre arbeitslos sind, haben kaum eine reelle Chance auf Teilhabe. Das wies Dr. Frank Bauer vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung NRW detailliert nach. Durch Industrie 4.0 wüchsen die Bildungsanforderungen weiter, die viele bereits heute nicht erfüllen könnten. Und es entstünde Konkurrenz durch immer mehr Absteiger aus der Mittelschicht, ergänzte Hermann-Josef Kronen.
Was das alles gesellschaftlich bedeutet, ist eine große Zukunftsfrage. Denn die Langzeitarbeitslosen fühlen und wissen nur allzu gut, dass sie abgehängt und abgeschrieben sind. Und sie sind ihr Leben im Auf und Ab ihrer Maßnahmekarrieren satt. Das hat Tim Obermeier vom Institut für Bildungs- und Sozialpolitik an der Hochschule Koblenz herausgefunden, als er intensiv mit Langzeitarbeitslosen gesprochen hat. Seine lokalen Zukunftswerkstätten haben noch einmal bewiesen, dass diese Menschen nicht nur an der Erwerbsarbeit, sondern auch an der Gesellschaft teilhaben wollen. Und dass sie viele Ideen haben für ein besseres Leben für alle.
Es sei ein Gebot der Humanität, die Teilhabe für alle zu organisieren, hieß es in Herzogenrath. Das griffen auch drei Landtagsabgeordnete, Martina Maaßen (Bündnis 90/Die Grünen), Daniela Jansen (SPD) und Ulla Thönnissen (CDU) auf. Ein öffentlich geförderter, sozialer Arbeitsmarkt müsse her, mit einer langfristigen Finanzierung, sagten sie unisono. Und sie zeigten sich durchaus selbstkritisch mit Blick auf die Hartz-IV-Gesetzgebung.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen könne die damit verbundene kritisierte Praxis der Arbeits- und Sozialverwaltung ablösen, hieß es in Herzogenrath. Viele der versammelten Fachleute und Verantwortlichen zeigten sich einig: Wie der soziale Arbeitsmarkt erschlösse das Grundeinkommen zudem allen Bürgern neue Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten – also auch den Beschäftigten.
Diese erleben schließlich Arbeitsverdichtung, Zerfaserung des Privatlebens oder Prekarisierung ihrer Beschäftigungsverhältnisse und suchen zuweilen nach Alternativen. Und hier schloss Prof. Segbert den Kreis: In dieser Hinsicht hätten die neuen Technologien auch positives Potenzial. Er forderte dazu auf, die Humanität zu heben, welche die Digitalisierung ermöglichen kann. Denn es gelte schließlich das, was er mit Blick auf die industrielle Rationalisierung gesagt hat: Die Technik ist nur ein Werkzeug – entscheidend ist, was man damit macht.
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