Europa steht im Zeichen des Krieges, seine Gesellschaften befinden sich im Fokus hybrider Kriegsführung. Spaltung und Hetze prägen postfaktische politische Diskurse. Wie wird die erste Parlamentswahl unter diesen Bedingungen ausgehen? Wird es eine Denkzettelwahl, in der Rechtspopulismus und Nationalismus mit ihren verführerischen, aber falschen Versprechungen den Sieg davontragen?
Es steht viel auf dem Spiel, machte der Europaabgeordnete Daniel Freund am 9. April im Nell-Breuning-Haus deutlich. Er berichtete, dass eine wachsende Zahl von Parlamentariern bereits heute wichtige Programme und Projekte pausieren oder zurückdrehen wollen. Das betreffe den Green Deal, also Maßnahmen für Klimaschutz und Biodiversität, aber auch Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit.
Die Reformkräfte im Europäischen Parlament benötigten Rückenwind, sonst drohten Stillstand oder gar Rückschritt bei zentralen Zukunftsfeldern. Der Ukraine-Krieg erfordere eine geschlossene Haltung für eine Bekräftigung des Friedensprinzips: Keine Grenze darf mit Gewalt verschoben werden. Hier räche sich ein Konstruktionsfehler der EU, der Zwang, weitreichende Entscheidungen einstimmig zu treffen.
Wie Europa im Alltag erlebbar ist, zumindest in einer grenznahen Gemeinde, skizzierte der Herzogenrather Bürgermeister Dr. Benjamin Fadavian. Zum einen ist hier ein freizügiges, offenes, gutnachbarschaftliches Europa täglich spürbar. Freundschaften, Partnerschaften und Familien kennen keine Grenzen, eingekauft wird hier wie dort, auch der Ort für Arbeit und Wohnen sind frei wählbar.
Zum anderen bleiben die bürokratischen Barrieren hoch. Es brauche unbedingt einen Fortschritt in der Durchlässigkeit der Systeme, zum Beispiel in der Kranken- und Rentenversicherung. Wer wolle sich mit so vielen komplexen Vorschriften auseinandersetzen, fragte der Bürgermeister. Er träumt mit anderen zusammen davon, Herzogenrath und Kerkrade zur gemeinsamen europäischen Modellstadt Eurode zu verschmelzen.
Eine wichtige Strategie gegen Rechtspopulismus und Nationalismus sei eine wirksame europäische Sozialpolitik, betonte als Dritte im Bunde Sigrid Schraml. Paradoxerweise würde die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Rechtspopulisten und Rechtsextremisten vorrangig die Menschen schädigen, die sie wählen, sagte die Generalsekretärin des Europäischen Zentrums für Arbeitnehmerfragen (EZA).
Die meisten Überschneidungen hätte diese Politik mit neoliberalen Programmen. Europa habe demgegenüber vieles geleistet in den letzten Jahren, ohnehin mit seinem Europäischen Sozialfonds, aber auch mit der Richtlinie zum Mindestlohn, mit der Erhöhung der Tarifbindung und der Stärkung von Rechten der Plattformarbeitenden. Dieser Weg müsse weiter beschritten werden.
Das Nell-Breuning-Haus moderiert in Zusammenarbeit mit EZA einen sozialen Dialog über diese Fragen. Im zivilgesellschaftlichen Netzwerk mit Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen kommen viele Themen auf den Tisch, bei denen Europa vorankommen muss. Insbesondere sind dabei die Interessen von Menschen in prekären Lebens- und Arbeitssituationen im Blick.
Für diese Arbeit und weitere europäische Aktivitäten des Hauses erbrachte der Abend mit seinen vielschichtigen Perspektiven spannende Impulse. Europa muss verständlich und erfahrbar sein, das war eine wichtige Quintessenz. Das betrifft sowohl die klare Kommunikation der Vorteile als auch ein weiteres Voranschreiten bei der europäischen Integration. Die Europawahl stellt die Weichen.