Der Braunkohleabbau im Rheinischen Revier endet 2030. Was folgt? Wie man in dieser Region in den nächsten Jahrzehnten leben und arbeiten kann, betrifft eine Millionenzahl von Menschen. Dazu gehören auch Hunderttausende Kinder und Jugendliche. Werden sie zu ihren Interessen, Wünschen, Vorschlägen systematisch befragt und mit handhabbaren Projekten einbezogen?
Leider nein, das Rheinische Revier ist gerade dabei, eine historische Chance zu verspielen und die Fehler früherer Strukturwandelprozesse zu wiederholen. Erneut haben Technokraten, Bürokraten und Interessenvertreter das Sagen, die für andere festsetzen, was gut für diese ist. Die demokratische Legitimation ist dünn, das Vorgehen nach heutigem Verständnis wenig demokratisch.
Bei einer Fachtagung im Nell-Breuning-Haus am 10. Februar 2023 wurde der Stand des Strukturwandels einer kritischen Zwischenbilanz unterzogen. Die Strukturen und Formate kamen mit Blick auf ihre demokratische Ausprägung auf den Prüfstand. Und sie fielen mit Pauken und Trompeten durch: Es fehlen Transparenz, Kontrolle und Nachhaltigkeit – nur ein paar Stichworte.
Profunder Impulsgeber: Dr. Jan-Hendrik Kamlage von der Ruhr-Universität Bochum. Er kritisierte den rastlosen Zeitdruck, unter den die Zukunftsagentur Rheinisches Revier alle Beteiligten inklusive sich selbst setzt. Das Ergebnis sind Hauruck-Festlegungen, Visionen mit geringer Tiefe, Papiere mit kurzer Halbwertzeit, Inkonsistenzen und Inkohärenzen – und thematisch viele blinde Flecken.
Demokratie braucht Bürgerbeteiligung
Das moderne Verständnis von Demokratie liegt darin, dass sich die Bürgerschaft auch jenseits von Wahlen aktiv in das Gemeinwesen einbringt. Diese gelebte Demokratie ist zwar anstrengend, fordert allen Beteiligten Zeit, Kraft, Kritik- und Kompromissfähigkeit ab, aber es gibt keine Alternative, warb Dr. Benjamin Fadavian, Bürgermeister der Stadt Herzogenrath, für echte Bürgerbeteiligung.
Was echte Bürgerbeteiligung heute ist, zeichnete Dr. Jan-Hendrik Kamlage nach. Sie verlässt den Raum des bloßen Informierens und punktuellen Konsultierens. Dort hingegen wird häufig nur vorgestellt, was kleine Zirkel vorher fertig ausformuliert haben. Einwände werden gehört, ob sie verlässlich und im Sinne der Einwendenden eingearbeitet werden, ist offen und unklar.
Genau diese Erfahrung machen Menschen aus der Zivilgesellschaft beim Strukturwandel des Rheinischen Reviers. Auch kurze Events mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen bleiben auf rein symbolischer Ebene. Denn alle so genannten Beteiligungsformate im Revier sind oberflächlich, weil mit ihnen nicht transparent, partizipativ und prozesshaft weitergearbeitet wird.
Man weiß nicht, in wessen Schubladen die schönen Konzepte und Erklärungen verschwinden, brachte Leon Huff, Mitarbeiter beim Landesverband Nachhaltiges Sachsen, eine ähnliche Erfahrung aus dem Strukturwandel des Mitteldeutschen Reviers zum Ausdruck. Kaum besser sieht es in der Lausitz aus, berichtete Franziska Stölzel von der United Nations University Dresden.
Bürgerbeteiligung braucht Ressourcen
Inspiriert von den Vernetzungs- und Selbstermächtigungsschritten in Ost- und Mitteldeutschland, richtete sich der Fokus auf die fatale Fehlsteuerung des Strukturwandels im westdeutschen Revier. Hier wie dort mangelt es der Zivilgesellschaft an Ressourcen, um ihre Stimmen gegenüber den geschulten Stakeholdern aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft vernehmbar zu erheben.
Das hat damit zu tun, dass die entscheidenden Weichenstellungen ohne Bürgerbeteiligung vorgenommen wurden. Mit der Brechstange wurden in einem kleinen Kreis von Interessenvertretern in drei Monaten Zielvorgaben, Pläne und Priorisierungen vorgenommen, für die es eigentlich zwei Jahre intensiver Beratung gebraucht hätte, kritisierte Dr. Jan-Hendrik Kamlage.
Diese intransparent und ohne breiten Diskurs entwickelten Festlegungen prägen bis heute die Förderpolitik. Die Kriterien, nach denen die Strukturwandel-Milliarden verteilt werden, sind eng gefasst, blenden soziale und kulturelle Aspekte weitgehend aus, jenseits elitärer Zugänge. So fehlt die finanzielle Unterfütterung, mit der Ortsbevölkerung und mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten.
Strukturwandel braucht Akzeptanz
Wenn hier nicht rasch gegengesteuert wird, verpasst die Region die Chance, dass ihre Menschen Demokratie als positiven Gestaltungsraum erleben. Wie dringend eine solche aktive Einbeziehung ist, um Akzeptanz zu sichern, zeigen Zahlen aus Ost- und Mitteldeutschland. Das Rheinische Revier segelt hier hingegen im Blindflug, im Feuerwerk ihrer Zahlenspiele fehlt der Agentur eine regelmäßige Erhebung der Zufriedenheit und Erwartungen in der Bevölkerung rund um den Strukturwandel.
Extrem viele wertvolle Hinweise und Anregungen aus der Fachtagung, die das Nell-Breuning-Haus und die Stadt Herzogenrath gemeinsam veranstaltet hatten. Zu den Fachleuten, die den Impulsen nachgehen werden, gehörten auch zwei Frauen aus dem Landtag, die Strukturwandel-Expertin Antje Grothus und Laura Postma, die mit 29 Jahren zu den jüngsten Abgeordneten in Düsseldorf zählt.
Dr. Manfred Körber, Leiter des Nell-Breuning-Haus, ermutigte die Gäste zur weiteren Vernetzung. Es gibt digitale Formate wie einen Strukturwandel-Stammtisch aus Ost- und Mitteldeutschland. Und es gibt die Demokratiewerkstatt Rheinisches Revier. Dort wird intensiv und modellhaft mit anderen Akteuren ausgelotet, wie sich echte Bürgerbeteiligung im Strukturwandel organisieren lässt.