Unternehmen müssen nicht warten, um die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu verbessern

Tagung „Zeit für Pflege“ zeigte: Sie haben viele Möglichkeiten, pflegende Angehörige in ihrer Belegschaft zu entlasten und zu unterstützen

Tagung Zeit für Pflege (c) thh
Tagung Zeit für Pflege
Datum:
Di. 5. März 2024

Immer mehr Menschen, Betriebe, Branchen sind betroffen: Mit den Anforderungen einer hochverdichteten, eng getakteten Arbeitswelt lassen sich familiäre Verpflichtungen von Beschäftigten schlecht vereinbaren. Dies betrifft nicht nur Mitarbeitende in der Familienphase, sondern auch und gerade Mitarbeitende, die Angehörige pflegen. Denn für sie ist der gesetzlich oder tariflich garantierte Rahmen noch lückenhafter und unzureichender.

Das Thema gewinnt an Brisanz. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente, perspektivisch werden immer mehr Menschen dieser Generation auch pflegebedürftig. Neun von zehn Pflegebedürftigen werden im häuslichen Umfeld gepflegt, ganz überwiegend von Angehörigen. Vor allem Frauen schrauben ihre Arbeitszeiten herunter oder hören auf mit dem Beruf, um ihre Sorgearbeit zu leisten. Wer nicht ausscheidet, wird häufiger krank, bis hin zum Burnout.

Gesetzgeber und Tarifpartner brauchen noch Zeit

Ein Bündel von Gründen legt nahe, endlich den Schalter beim Gesetzgeber, bei den Tarifpartnern und den Führungsverantwortlichen umzulegen. Häufig mangele es den zuständigen Personen aber an Einblick und Sensibilität, kritisieren Beobachter. Viele Verantwortliche seien bislang nicht persönlich von den herausfordernden Situationen betroffen. Ihnen fehle daher schlicht der Einblick in die Belastungen und Überforderungen pflegender Angehöriger.

Was tun? Bei der Fachtagung „Zeit für Pflege“ am 29. Februar 2024 im Nell-Breuning-Haus kamen politische Forderungen auf den Tisch, nach Gleichstellung von Elternschaft und Angehörigenpflege, nach Entbürokratisierung, nach Aufbau örtlicher Infrastrukturen zum Beispiel. Tarifverträge können vieles für die Belegschaft insgesamt regeln, ergänzt und verstärkt durch gute, fair ausgehandelte, tragfähige Absprachen in den Betrieben und Teams.

Auf Gesetzgeberseite braucht es noch Zeit für nächste Schritte, skizzierte Silke Raab vom DGB-Bundesvorstand. Ein Beirat entwickelt Vorschläge für eine Besserstellung von pflegenden Angehörigen, etwa mit Blick auf Freistellung und weiteren Entlastungen. Diese Initiativen befinden sich noch im Beratungsprozess. Der wiederum wird sicherlich nicht mehr im Rahmen der aktuellen Legislaturperiode in ein neues Gesetzeswerk münden.

NRW-Landesprogramm fördert Vereinbarkeit vor Ort

Kein Grund, nicht alle Stellschrauben zu nutzen, die Unternehmen schon heute haben. Durch konkrete Maßnahmen und eine veränderte Kultur können sie dazu beitragen, dass sich Beruf und Pflege besser vereinbaren lassen. Das ist die Erfahrung von Adelheid von Spee, die mit Hilfe des NRW-Landesprogramms „Vereinbarkeit ‚Beruf und Pflege‘“ eine Art Graswurzelbewegung fördert. Schon 350 Betriebe und Behörden haben seit 2023 die Charta des Programms gezeichnet.

Mit dieser Charta wird nicht nur dem gesellschaftlichen und betrieblichen Anliegen ein Gesicht gegeben. Vielmehr bilden die teilnehmenden Unternehmen Pflege-Guides aus, die eine erste, vertrauliche Anlaufstelle für betroffene Mitarbeitende sind, die informieren, makeln, lotsen. Adelheid von Spee geht davon aus, dass pflegesensibel ausgerichtete Unternehmen immer stärker einen Wettbewerbsvorteil im Kampf um Arbeitskräfte haben werden.

Was Unternehmen bereits in der Hand haben

Drei Charta-Unternehmen aus dem Rheinland berichteten. Das Forschungszentrum Jülich investiert bereits viel Geld in die Information, Unterstützung und psychosoziale Beratung pflegender Angehöriger. Dreh- und Angelpunkt sind flexible Arbeitszeiten, was vor allem bei größeren Unternehmen bei gutem Willen gut geht. Das zeigt auch das Beispiel von Arbeitsagenturen im Rheinland, die sich dem Landesprogramm anschlossen.

Das Luisenhospital in Aachen startet in Kürze ein offenes Angebot für alle Mitarbeitenden, von der Putzfrau bis zum Professor, über alle Berufsgruppen hinweg. Zwei Pflege-Guides bieten wöchentlich Sprechstunden an, in denen vertraulich über aktuelle familiäre Herausforderungen gesprochen und nach Lösungen gesucht werden kann. Gleichermaßen sind der Sozialdienst und die Mitarbeitervertretung an Bord dieser kollegialen Unterstützungsleistung.

Was können kleinere Betriebe und Behörden tun? Angesichts kleinerer Teamgrößen können sie häufig weniger frei mit flexiblen Arbeitszeiten umgehen. Aber sie können ihre Abläufe familien- und pflegefreundlicher gestalten, zum Beispiel Meetings in Kernzeiten, nicht früh morgens oder nachmittags ansetzen und eine Teilnahme per zugeschalteter Videokonferenz ermöglichen. Ein wichtiger Schritt dahin liegt darin, das Thema zu enttabuisieren, offen zu reden, Vertrauen und Solidarität zu stärken. Idealerweise hält eine Betriebsvereinbarung die neuen Regelungen verbindlich fest, Ausdruck des gemeinsamen Willens, pflegesensibel unterwegs zu sein.

Abschließende Infos

„Zeit für Pflege“ ist eine Veranstaltungsreihe am Nell-Breuning-Haus zum Equal Care Day. Dieser Tag trommelt für faire, gerechte Bedingungen und Verteilung in der Sorgearbeit. Die Veranstaltungsreihe ist getragen und gestaltet durch die Kommission „Kirche und Arbeiterschaft“ im Bistum Aachen. Die hybride Tagung am 29. Februar 2024 wurde finanziell von der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke (AKSB) unterstützt. 

Tagung "Zeit für Pflege"

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